Schwerpunktthema 2024: Kieferorthopädische Versorgung
Die kieferorthopädische Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland ist seit Jahrzehnten ein fester Bestandteil des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Der Zahnreport 2024 der BARMER Krankenkasse beleuchtet als Schwerpunktthema detailliert die aktuelle Situation und die Entwicklungen in diesem Bereich.
Mehrere Studien verbessern Datenlage im Bereich KFO
Nachdem in verschiedenen Berichten, unter anderem im Jahr 2018 vom Bundesrechnungshof, hohe Ausgaben für Kieferorthopädie (KFO) kritisiert wurden und eine mögliche Überversorgung in diesem Bereich der zahnmedizinischen Behandlung vermutet wurde, hat auch die neueste Deutsche Mundgesundheitsstudie DMS 6 speziell den KFO-Behandlungsbedarf genauer untersucht. Dabei wurde der Anteil von Acht- bzw. Neunjährigen, die nach den Richtlinien der vertragszahnärztlichen Versorgung behandlungsbedürftig sind, analysiert. Bei 40,4% der untersuchten Kinder wurde ein Behandlungsbedarf (Schweregrad drei und höher) festgestellt. Lediglich 0,7% der Teilnehmer der DMS 6-Studie wiesen ein aus kieferorthopädischer Sicht naturgesundes Gebiss auf. Die Forscher schätzen jedoch, dass der tatsächliche Anteil an Kindern und Jugendlichen, die im Laufe ihrer Entwicklung eine kieferorthopädische Behandlung benötigen werden, höher liegt. Sie begründen dies damit, dass sich in der untersuchten Altersgruppe aufgrund des Wachstums noch Änderungen im Schweregrad ergeben könnten und bei den für die Studie erfolgten Untersuchungen aus ethischen Gründen auf begleitende radiologische Untersuchungen verzichtet wurde.
Mit dem Schwerpunktthema KFO leistet nun auch die aktuelle BARMER-Studie einen Beitrag dazu, die Datenlage im Bereich KFO zu verbessern.
Hintergrund
Die kieferorthopädische Versorgung in Deutschland basiert auf den Kieferorthopädie-Richtlinien (KFO-Richtlinien) des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), die seit dem 1.1.2004 gelten. Diese Richtlinien stellen sicher, dass die Versorgung ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist, und schließen Maßnahmen aus, die lediglich kosmetischen Zwecken dienen.
KFO-Behandlungen werden in der Regel nur dann von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen, wenn der Patient bzw. die Patientin bei Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Im Erwachsenenalter ist KFO nur bei schweren Kieferanomalien, ‑missbildungen oder Verletzungen Kassenleistung.
Zudem entscheidet der Schweregrad der Kieferanomalie darüber, ob die Behandlungskosten von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Als behandlungsbedürftig werden nach den Kriterien des G-BA nur Fälle mit mindestens Schweregrad drei eingestuft.
Die wichtigsten Ergebnisse der BARMER-Studie zur KFO-Versorgung
Nachfolgend die wichtigsten Erkenntnisse des aktuellen BARMER Zahnreports zur Versorgungslage im Bereich KFO:
- Versorgungssituation:
Bundesdurchschnittlich rund 87% der KFO-Leistungen werden von Praxen mit KFO-Schwerpunkt (Umsatzanteil KFO am Gesamtumsatz >75%) erbracht. Ganz überwiegend handelt es sich bei den Behandlern um Fachzahnärzte. - Inanspruchnahme:
71% der Kinder und Jugendlichen nutzen die Möglichkeit einer KFO-Beratung oder Diagnostik. 55% der Kinder und Jugendlichen haben vor Vollendung des 17. Lebensjahrs eine KFO-Therapie in Anspruch genommen. Sowohl bei der Inanspruchnahme von Beratungs- und Diagnostikleistungen als auch von KFO-Therapien zeigt sich ein deutlicher, geschlechtsspezifischer Unterschied (rund 10% höhere Inanspruchnahme bei Mädchen im Vergleich zu Jungen). - Regionale Unterschiede:
In den Regionen, in denen weniger KFO-Schwerpunktpraxen vorhanden sind, werden KFO-Leistungen zu einem größeren Anteil auch von Praxen ohne spezielle KFO-Ausrichtung erbracht. Im Vergleich der Bundesländer schwankt der von KFO-Schwerpunktpraxen erbrachte Anteil am gesamten KFO-Umsatz zwischen 80 und 96%. In allen ostdeutschen Bundesländern (ausgenommen Berlin) liegt der Anteil der von Nicht-Schwerpunktpraxen erbrachten KFO-Leistungen über dem Bundesschnitt von 13%. Und auch bei der Inanspruchnahme zeigen sich Unterschiede: Bei Betrachtung der kumulierten Inanspruchnahmerate von KFO-Versorgung von 8- bis 17-Jährigen nach Bundesland, entfallen die höchsten Werte auf Bayern (60%) und Brandenburg (58%), Schlusslichter sind Bremen (46%) und Niedersachsen (48%).
Kommentar:
Die KFO-Versorgung in Deutschland ist in der bundesweiten Betrachtung und auch im Vergleich mit anderen europäischen Ländern als gut einzustufen. Betrachtet man nur die relevante Altersgruppe der unter 18-Jährigen, stehen für die Versorgung von 10.000 Personen 2,6 Fachzahnärzte für KFO zur Verfügung (Stand Ende 2022).
Aus der abgebildeten Dichtekarte (Abb. 1) wird jedoch deutlich, dass die KFO-Versorgung regional ungleich verteilt ist. Abb. 1 stellt das Verhältnis aller Einwohner einer Region zur Zahl der tätigen Fachzahnärzte für KFO dar. Bundesländer mit überdurchschnittlicher KFO-Versorgung sind rot, solche mit niedriger KFO-Dichte grün eingefärbt. Besonders niedrig (und damit günstig aus Patientensicht) ist das Einwohner-Fachzahnarzt-Verhältnis in den beiden Stadtstaaten Hamburg und Berlin sowie in Süddeutschland (Hessen, Bayern und Baden-Württemberg), deutlich schlechter ist die Fachzahnarztversorgung in Bremen, Sachsen-Anhalt und dem Saarland. Aus der Perspektive niederlassungswilliger Fachzahnärzte betrachtet, sind die Wettbewerbsbedingungen hier besonders günstig.
Abb. 1: KFO-Versorgung in Deutschland
Die nachfolgende Tabelle stellt die Versorgungssituation der für die KFO-Versorgung relevanten Altersgruppe der unter 18-Jährigen dar. Dabei wurden diejenigen Bundesländer farblich hervorgehoben, in denen die Fachzahnarztdichte je 10.000 unter 18-Jährige unter 2,6 – dem bundesweiten Durchschnittswert – liegt. Aus der Darstellung wird deutlich, dass die Fachzahnarztversorgung in sämtlichen neuen Bundesländern unterdurchschnittlich ist.
Tab. 1: KFO-Versorgungssituation in Deutschland nach Bundesländern im Jahr 2022
Bundesland | Bevölkerung unter 18 Jahren | Anzahl niedergelassener und in Praxen tätiger Fachzahnärzte für KFO | Fachzahnarztdichte je 10.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren |
---|---|---|---|
Baden-Württemberg | 1.955.083 | 515 | 2,6 |
Bayern | 2.260.839 | 637 | 2,8 |
Berlin | 634.728 | 184 | 2,9 |
Brandenburg | 420.366 | 88 | 2,1 |
Bremen | 117.409 | 21 | 1,8 |
Hamburg | 325.557 | 102 | 3,1 |
Hessen | 1.100.261 | 346 | 3,1 |
Mecklenburg-Vorpommern | 254.343 | 49 | 1,9 |
Niedersachsen | 1.391.703 | 292 | 2,1 |
Nordrhein-Westfalen | 3.122.795 | 809 | 2,6 |
Rheinland-Pfalz | 698.016 | 146 | 2,1 |
Saarland | 152.715 | 34 | 2,2 |
Sachsen | 665.236 | 155 | 2,3 |
Sachsen-Anhalt | 334.587 | 61 | 1,8 |
Schleswig-Holstein | 486.562 | 130 | 2,7 |
Thüringen | 331.523 | 70 | 2,1 |
Gesamt | 14.251.723 | 3.639 | 2,6 |
Quelle: BARMER Zahnreport 2024
Teilweise wird der Fachzahnarztmangel in den Bundesländern mit geringer Fachzahnarztdichte zwar dadurch ausgeglichen, dass dort zu einem größeren Prozentsatz auch nicht KFO-Schwerpunktpraxen die KFO-Versorgung übernehmen, wie die Zahlen des Zahnreports belegen. Dennoch zeigen sich abgesehen von Brandenburg auch bei der Inanspruchnahme von KFO-Leistungen für die ostdeutschen Länder zum Teil signifikant schlechtere Werte als für die südwestdeutschen. Es ist Aufgabe der Politik, die Versorgung mit Fachzahnärzten in unterversorgten Regionen zu verbessern, indem sie die Ausbildung und Niederlassung von Zahnärzten und Fachzahnärzten verstärkt fördert. Besonders in den neuen Bundesländern wird die Situation durch eine unvorteilhafte Altersstruktur perspektivisch verschärft, da dort laut Bundeszahnärztekammer Ende 2022 bereits 45% der Zahnärzte über 55 Jahre alt waren und bald ausscheiden werden. In den alten Bundesländern (einschließlich Berlin) beträgt der Anteil dieser Altersgruppe lediglich 36%.
Der Atlas Medicus Marktatlas liefert nicht nur Informationen zur Versorgung mit Fachzahnärzten, sondern beispielsweise auch zu Praxen mit KFO-Nebentätigkeit oder zur Altersstruktur der Bevölkerung – bei Bedarf sogar bis auf Postleitzahlebene. Ausführlichere Informationen zu den Studienergebnissen des DMS-Moduls KFO finden Sie in unserer News vom 30.9.2022.
Quelle: bifg – BARMER Zahnreport 2024