Im Kerngeschäft kann sich der Physiotherapeut kaum vom Wettbewerber hinsichtlich des Produkt- bzw. Leistungsspektrums abheben, da dieses durch den Heilmittelkatalog vorgegeben ist und nahezu alle entsprechenden Zertifikatspositionen anbietet.
ABER: Fokussierung und Ausrichtung auf Nischen durchaus möglich
Manche Praxen konzentrieren sich auf spezielle Zielgruppen mit entsprechend maßgeschneiderten Angeboten, Informationspaketen etc. Eine Fokussierung kann dabei auch hinsichtlich spezieller Krankheitsbilder und/oder Therapieformen erfolgen oder sich an spezielle Einrichtungen (z.B. Pflegeheime) richten. Der Therapeut kann sich auf B2B konzentrieren, indem er gezielt Unternehmen anspricht, z.B. für Maßnahmen rund um das betriebliche Gesundheitsmanagement oder auf Präventionsangebote für ältere Patienten (wie etwa Gleichgewichtstraining zur Sturzprophylaxe). Der Therapeut kann Mutter/Kind-Gymnastikgruppen, Schwangerschaftsrückbildungsgymnastik, Inkontinenzbehandlung, Rückenschule, Geburtsvorbereitung etc. anbieten. Die Möglichkeiten sind groß. In einer kleinen Spezialnische bewegen sich etwa die onkologischen Bewegungstherapeuten mit speziellen Therapien für krebskranke Patienten.
Eine weitere Möglichkeit zur Differenzierung besteht im Anbieten spezifischer Services, wie z.B. Hausbesuche, Zusatzleistungen wie Terminservices oder Unterstützung bei der Abrechnung/Bearbeitung von Formularen, Case-Management, offene Akutsprechstunden, digitale Gesundheits-/Fitness-Apps oder die Teilnahme an spezifischen Versorgungsmodellen der Kassen.
Standortwahl ist zentral für den Erfolg und die Ausrichtung der Praxis
Zu prüfen ist bei Nischenthemen immer genau, inwieweit sich (teure) Weiter- bzw. Zusatzqualifikationen auch lohnen und in das Leistungsspektrum bzw. zum Standort der Praxis passen. Denn die Standortwahl der Praxis ist ein zentrales Erfolgskriterium. Im Vordergrund steht dabei ein möglichst kurzer Weg der Patienten zur Therapie. Weitere Standortkriterien neben der Patientennähe (Ärztestruktur, Krankenhäuser, Schulen in der Nähe) sind Verkehrsanbindung, Konkurrenz (Anzahl von Physiotherapeuten, aber auch von Masseuren), Lage (Ballungszentren, Einkaufsmöglichkeiten, attraktives Umfeld), die Verfügbarkeit von Arbeitskräften/Parkplätzen, Barrierefreiheit etc.
Unternehmerisches Geschick immer wichtiger
Geschickte Praxisinhaber optimieren die Auslastung der mit Geräten ausgestatteten Räumlichkeiten, indem sie Abo-Modelle für die selbstständige Nutzung (ähnlich einem Fitnessstudio) oder andere Selbstzahlerleistungen wie Personal Training, Kleingruppentraining etc. anbieten. Umgekehrt führt zunehmendes Gesundheitsbewusstsein auch dazu, dass Patienten bzw. Kunden leichter für solche Selbstzahlerangebote zu gewinnen sind. Von wirtschaftlicher Relevanz ist die Akquise von privat versicherten Patienten. Aber auch die Teilnahme an Modellprojekten und zusätzlichen Versorgungsangeboten, z.B. von den Krankenkassen zertifizierte Gruppen-/Präventionstrainings, versprechen Zusatzeinnahmen. Generell werden künftige gesetzliche Rahmenbedingungen, z.B. die Modellprojekte zum Direktzugang, mit einer höheren wirtschaftlichen Verantwortung einhergehen.
Digitalisierung bietet Chance für ‚First Mover‘ in der Branche
Im Vergleich zu anderen (Gesundheits-)Berufen hält die Digitalisierung nur langsam Einzug bei den Heilmittelerbringern. Viele haben noch nicht einmal eine eigene Homepage oder arbeiten sogar ohne Computer. Umgekehrt profitier(t)en gerade auch in Pandemiezeiten jene Praxen, die sofort Online-Therapien, digitale Selbstzahlerformate etc. anbieten konnten, Prozesse bereits digitalisiert hatten (Terminmanagement etc.) und damit administrative Tätigkeiten auch vom Homeoffice aus erledigt werden konnten. Ähnliches gilt für die (digitale) Kommunikation mit den Patienten z.B. über Social Media, Online-Newsletter etc. Gleichzeitig kommen aber auch die Patienten selbst informierter in die Praxen bzw. haben sich vorher im Internet entsprechend eingelesen. Die Nutzung von Wearables bzw. Smartwatches in Kombination mit entsprechenden Apps boomt weiterhin, was auch bedeutet, dass der Therapeut seine Patientenkommunikation entsprechend anpassen muss und gegebenenfalls die ‚Selbstvermessung‘ des Patienten mitberücksichtigt.
Mittelfristig ist mit der digitalen Abbildung der Prozesse von der Verordnung bis hin zur Abrechnung zu rechnen, was auch mit entsprechend reduziertem administrativem und bürokratischem Aufwand verbunden sein wird. Das spart zudem Personal bzw. lässt deren Ressourcen stärker auf die Leistungserbringung konzentrieren. Aber auch dort ist z.B. mit DiGA (Digitale Gesundheitsanwendungen) künftig von einem therapeutischen Miteinander z.B. im Rahmen therapieunterstützender Apps auszugehen. Ein weiterer Treiber dürfte die engere Kooperation mit anderen Gesundheitsdienstleistern sein (wie die Modellprojekte SmArt-E der AOK Bayern oder die Virtual-Training-APP der TK in Schleswig-Holstein).
Die steigende Bedeutung und Verbreitung digitaler Apps verdeutlicht den Digitalisierungsdruck und wie stark Praxen abgehängt werden, wenn sie dem nicht nachkommen. Die wenigsten nutzen dabei selbst programmierte Anwendungen, sondern greifen auf jene von Start-ups oder großen Anbietern – aus zum Teil anderen Branchen – zurück. Für Letztere hingegen ermöglicht das digitale Angebot den Markteintritt – z.B. über erweiterte BGM-Maßnahmen – in die Physiotherapie. Das erhöht die Konkurrenz für die kleineren Praxen, aber auch generell die Substitutionsgefahr persönlich erbrachter Kerndienste, indem z.B. das Nebeneinander von digitalen Services zu weniger bzw. in die Länge gezogener Therapieleistungen führt.
Kommentar:
Die sogenannten Zertifikatspositionen werden über die Heilmittel-Richtlinie definiert. Ihre Abgabe ist u.a. an den Nachweis einer qualifizierenden Weiterbildung geknüpft, bedarf also einer speziellen Qualifikation, die über die im Rahmen der Berufsausbildung erworbenen Kenntnisse hinausgeht. Das Gros der von den GKVen erstatteten physiotherapeutischen Heilmittelleistungen fällt darunter (z.B. Krankengymnastik ZNS, manuelle Lymphdrainage, gerätegestützte Krankengymnastik, manuelle Therapie).
Neu ist seit April 2022, dass einige physiotherapeutische Leistungen auch digital angeboten werden können – als Folge der pandemiebedingten Sonderreglung, die mittlerweile in die Regelversorgung überführt wurde. Die Therapeuten erhalten dabei dasselbe Honorar wie für eine ambulant erbrachte Behandlung, es gelten jedoch spezifische Voraussetzungen:
- Die Behandlungen müssen in Echtzeit vom Therapeuten erfolgen, d.h. Videos/Aufzeichnungen sind nicht möglich, und zwar aus den Praxisräumen heraus (nicht aus dem Homeoffice).
- Die Leistung per Video ist auf gewisse Therapien (z.B. KG, Manuelle Therapie) sowie einen gewissen Umfang begrenzt; maximal die Hälfte der verordneten Behandlungen dürfen etwa bei Krankengymnastik telemedizinisch erbracht werden, nur drei Sitzungen bei Bobath und nur eine Einheit bei Manueller Therapie.
- Ersttermin sowie Verlaufskontrollen müssen persönlich stattfinden.
- Datenschutz- und IT rechtliche Anforderungen gilt es zu berücksichtigen (z.B. dürfen nur zertifizierte Videodienstanbieter genutzt werden).
- Voraussetzungen müssen vom Therapeuten geprüft werden (Medienkompetenz, Technik, Privatsphäre, Betreuungsperson bei pflegebedürftigen Patienten etc.)
- Keine ärztlichen Einwände, Einverständniserklärung des Patienten muss vorliegen etc.
Siehe auch News vom 5.7.2022 sowie 22.9.2022 und 4.10.2022
Quellen: