Aufwendiger Zertifizierungsprozess ist immer noch für viele Unternehmen eine große Herausforderung
Die Umsetzung der europäischen Medizinprodukteverordnung MDR ist für viele Medizintechnikunternehmen nach wie vor eine große Herausforderung. Die größten Probleme sind hohe Kosten, ein hoher bürokratischer Aufwand mit langen Verfahrensdauern sowie Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit mit Benannten Stellen. Die Folge ist eine Schwächung Deutschlands und der EU als Forschungs- und Gesundheitsstandort.
Zu diesem Ergebnis kam eine gemeinsame Studie der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), der Clusterinitiative MedicalMountains und des Industrieverbandes Spectaris. Für die Studie wurden zwei Jahre nach Geltungsbeginn der MDR bzw. knapp ein halbes Jahr nach Inkrafttreten der neuen Übergangsbestimmungen bundesweit 393 deutsche Hersteller von Medizinprodukten zum Stand der Umsetzung der MDR, den dabei aktuell noch bestehenden Problemen und den Auswirkungen auf das Innovationsklima und für die Versorgung mit Medizinprodukten befragt.
Schaffung eines einheitlichen regulatorischen Rahmens und Gewährleistung hoher Produktqualität waren die Hauptanliegen bei der Einführung der MDR
Medizinprodukte, die innerhalb der EU auf den Markt gebracht werden, benötigen eine CE-Kennzeichnung, mit der die Konformität mit den vom EU-Gesetzgeber definierten Sicherheits- und Leistungsanforderungen bestätigt wird. Mit der Neuregulierung der europäischen Medizinproduktezertifizierung durch die MDR sollte primär das hohe Sicherheitsniveau von Medizinprodukten innerhalb der EU weiter verbessert und der Rechtsrahmen für den Zertifizierungsprozess vereinheitlicht und transparenter gestaltet werden – zum Wohle der Anwender und der Gesundheit der Patienten.
Mehr erforderliche Produkt-Zertifizierungen durch weniger Benannte Stellen
Als Flaschenhals im Zertifizierungsprozess erweist sich die nach wie vor ungenügende Kapazität bei den Benannten Stellen, und 90% der befragten Hersteller beurteilen die Zusammenarbeit mit den Benannten Stellen als problematisch. Während den Herstellern für die Zertifizierung ihrer Produkte nach den MDR-Vorgänger-Richtlinien – 93/42/EWG (MDD) und 90/385/EWG (AIMDD) – EU-weit noch 59 Benannte Stellen zur Verfügung standen, sind es nun nur noch 39. Zwar muss bei der Zertifizierung von Medizinprodukten mit geringem Risiko für Patienten (Risikoklasse 1) keine Benannte Stelle eingebunden werden, dennoch ist die Zahl der Produkte, bei denen eine Prüfung durch eine Benannte Stelle erforderlich ist, gestiegen. Nachdem abzusehen war, dass Tausende Zertifikate nicht mehr rechtzeitig zum 26.5.2024 hätten ausgestellt werden können, wurden im März 2023 für einige Produktkategorien die Übergangsfristen verlängert (aktuelle Übergangsfristen siehe Abb. 1). Damit wurde der Marktzugang von zu (AI)MDD-konformen Altprodukten sichergestellt, die zum 26.5.2024 eine neue Zertifizierung nach MDR gebraucht hätten.
Abb. 1: Zeitschiene MDR-Einführung
Quelle: Spectaris, Darstellung REBMANN RESEARCH (Stand 2023)
Die Umfrage zeigt auch: Die Verfahrensdauer hat sich für viele Unternehmen drastisch verlängert – bei 37% der Betriebe dauert das Zertifizierungsverfahren dreimal so lang wie zuvor.
Hohe Zertifizierungskosten und bürokratischer Aufwand beeinträchtigen Produktvielfalt – Dentalhersteller besonders stark betroffen
Die erforderliche Rezertifizierung von Altprodukten hat zu einem deutlichen Rückgang bei Bestands- und Nischenprodukten geführt. In den im Rahmen der Umfrage erfassten 21 Produktgruppen waren 53% der Produktsortimente von einer kompletten oder teilweisen Einstellung des Vertriebs dieser Produkte innerhalb der EU betroffen. Besonders stark betroffen sind chirurgische Instrumente (70%) und zahnmedizinische Produkte, Pneumologie und Schlafmedizin sowie Anästhesie (jeweils 67%). Auch andere in der Zahnmedizin verwendete Produkte, wie beispielsweise radiologische oder in der Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie verwendete Implantate (jeweils 58%) sind von dem Verkaufs-Stopp besonders betroffen. Für rund jedes fünfte der betroffenen Produkte ist kein Ersatzprodukt verfügbar, weitere 45% sind zumindest nicht adäquat ersetzbar. Diese Medizinprodukte stehen folglich innerhalb der EU nicht mehr für die Patientenversorgung zur Verfügung. Das bedeutet nicht unbedingt, dass die Produktion aller betroffenen Produkte eingestellt wird. Einige werden weiterhin hergestellt, der Markt verlagert sich jedoch in Regionen außerhalb der EU. Insbesondere der US-Markt profitiert von diesen Marktverschiebungen. Die Herausforderungen, die sich aus der MDR ergeben, sind insbesondere für kleine Unternehmen groß. Von den Unternehmen mit bis zu 9 Mitarbeitern haben zwei Drittel vor, mindestens eines ihrer Produkte vom Markt zu nehmen. Dies plant aber auch rund die Hälfte der größeren Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern.
Abb. 2: Hauptgründe für Produkteinstellungen
Quelle: Spectaris (2023), Darstellung REBMANN RESEARCH
Kommentar:
Negative Folgen für den Innovationsstandort Deutschland
Durch die hohen Qualitäts- und Sicherheitsanforderungen rechnete der EU-Gesetzgeber ursprünglich mit einer innovationsfördernden Wirkung durch die Einführung der MDR. Tatsächlich scheint jedoch das Gegenteil der Fall zu sein. Zwei Jahre nach der Einführung sehen sich 77% der befragten Unternehmen in ihren Innovationsaktivitäten behindert. 57% der Unternehmen, die negative Auswirkungen auf ihre Innovationsfähigkeit sehen, rechnen bei der Markteinführung neuer Medizinprodukte in den EU-Markt mit einer Verzögerung von mehr als einem Jahr im Vergleich zum Zertifizierungsprozess nach MDD bzw. AIMDD.
Verlagerung von Erstzulassungen und klinischen Studien ins Ausland, vor allem in die USA
Als Konsequenz planen 28% der Unternehmen mit negativen Auswirkungen auf den Innovationsprozess ihre Erstzulassungen künftig außerhalb der EU. Besonders beliebt hierbei sind die USA, aufgrund des dort einfacheren und planungssicheren Zulassungsverfahrens. 26% der Unternehmen, die eine Erstzulassung außerhalb der EU planen bzw. 11% aller befragten Unternehmen haben vor, ihre Forschungs- und Entwicklungs-Abteilung in Länder außerhalb der EU zu verlagern, bevorzugt in die USA.
Nicht nur für Unternehmen, sondern auch für die Gesundheitsversorgung innerhalb der EU sind negative Folgen zu befürchten, da viele Bestands- und Nischenprodukte perspektivisch wohl den Marktzugang verlieren, weil eine Neuzertifizierung für den Hersteller nicht rentabel ist und einige der wegfallenden Produkte nicht adäquat ersetzt werden können. Diese Entwicklung dürfte nicht nur eine Schwächung des Forschungsstandorts Deutschland bzw. der EU nach sich ziehen, sondern auch eine Beschleunigung von Marktkonsolidierungsprozessen sein.
Nutzung von Digitalisierung, Beratungs- und Kooperationsangeboten noch deutlich ausbaufähig
Insbesondere kleine Hersteller, die von der MDR-Umsetzung kosten- und personalseitig besonders stark belastet sind, sollten die Beratungsangebote ihrer Verbände und Clusterorganisationen nutzen, sich frühzeitig um Benannte Stellen bemühen und mit anderen Herstellern verstärkt kooperieren. Unternehmen profitieren zudem von einer Digitalisierung von Prozessen und Dokumenten und von einer engeren Zusammenarbeit mit den Benannten Stellen und mit Behörden. Hier bestehen laut den Studienautoren noch „erhebliche Ausbaupotenziale“.
Weitere Infos zur MDR und zum Medizintechnik- bzw. Dentalmarkt finden Sie unter anderem in unseren Publikationen „Motor Medizintechnik“ und „Atlas Dental Europa 2024“. Diese finden Sie im Publikationsbereich von Rebmann Research unter PUBLIKATIONEN.