Experten-Rat "Pflegefinanzen" stellt Konzept für eine generationengerechte und paritätische Pflegekostenversicherung vor
SchließenExperten-Rat "Pflegefinanzen" stellt Konzept für eine generationengerechte und paritätische Pflegekostenversicherung vor
SchließenZwar eröffnet eine Absicherung des Pflegekostenrisikos auf dem Wege einer Versicherung gegenüber anderen Formen der Vorsorge, etwa durch Ersparnis, das Potenzial für erhebliche Effizienzvorteile, weil lediglich eine Absicherung der durchschnittlich erwarteten Pflegekosten erforderlich ist. Die Realisierung dieser Vorteile ist jedoch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, kann der Gesetzgeber ggf. durch Regulierung oder weitergehende Eingriffe auf eine Verbesserung hinwirken. Als zentrale Voraussetzung gilt die Informationslage bezüglich der Risiken. Sind die Risiken für Versicherte und Versicherer gleichermaßen bekannt, können sie in der Prämie entsprechend abgebildet werden. Wie auch bei der Alterssicherung wäre dann zu berücksichtigen, dass das Risiko mit dem Lebensalter steigt. Wird eine Versicherung in einem frühen Alter abgeschlossen, kann die Entwicklung der Prämien durch geeignete Rückstellungen so ausgestaltet werden, dass die finanzielle Belastung über die Zeit gleichförmig ist.
Tatsächlich gab es bereits vor Einführung der Sozialen Pflegeversicherung entsprechende Angebote für private Pflegeversicherungen, die durchaus nachgefragt wurden,26 bezogen auf die Gesamtbevölkerung war der Anteil der Versicherten indes vernachlässigbar. Das geringe Interesse an einer privaten Pflegeversicherung, das auch für andere Staaten belegt ist, wird neben einer systematischen Unterschätzung des künftigen Risikos, zum Pflegefall zu werden, im Wesentlichen dadurch erklärt, dass sich die Menschen auf die Pflege durch Angehörige oder die Finanzierung im Rahmen des Sozialstaats verlassen.27 Die Menschen verhalten sich dann individuell als “Trittbrettfahrer” - die Kosten der Pflege werden auf andere abgewälzt. Tatsächlich war das Phänomen der pflegebedingten Sozialhilfeabhängigkeit eine wesentliche politische Motivation für die Einrichtung der Sozialen Pflegeversicherung,28 wobei im Gesetzgebungsverfahren insbesondere die Belastung der Kommunen als Träger der Sozialhilfe eine Rolle gespielt hat.29
Wie beschrieben, ist die Gesetzliche Pflegeversicherung als Teilleistungsversicherung konzipiert, und es sind im Pflegefall von den Versicherten Eigenanteile an den pflegebedingten Kosten zu leisten. Wenn die Versicherungsleistungen dynamisiert, also mit der Entwicklung der Kosten für die Pflege regelmäßig angepasst werden, bleibt der Eigenanteil im Verhältnis zu den Kosten der Pflege im Zeitablauf konstant. Eine solche Ausgestaltung hat wichtige Vorzüge. Ein Eigenanteil stärkt die Eigenverantwortung und den Wettbewerb zwischen den Pflegeeinrichtungen und leistet mithin einen Beitrag zur Effizienz im Pflegesektor.30 Zudem entlastet ein Eigenanteil die Beitragszahler und begrenzt die im System der Sozialen Pflegeversicherung angelegte intergenerationale Umverteilung.
Bei der Teilleistungsversicherung sind die Versicherten gehalten, eine finanzielle Eigenvorsorge zu betreiben. Sind die finanziellen Mittel aufgebraucht, muss am Ende “Hilfe zur Pflege” in Anspruch genommen werden. Diese Regelung entspricht dem Subsidiaritätsprinzip, weil staatliche Unterstützung erst gewährt wird, wenn die eigenen Mittel bzw. die Mittel in der Familie nicht ausreichen.31
Die mit der Pflegereform 2021/2022 beschlossenen Leistungszuschläge (§ 43c SGB XI), die eine finanzielle Überforderung der Versicherten durch den Eigenanteil vermeiden sollen, widersprechen im Grundsatz der Konzeption einer Teilleistungsversicherung. Allerdings sind die Zuschläge zeitlich progressiv ausgestaltet, d. h. sie steigen mit zunehmender Dauer der vollstationären Pflege. Geht man davon aus, dass die finanziellen Mittel zur Eigenvorsorge begrenzt sind, entspricht diese Regelung zumindest im Ansatz noch dem Subsidiaritätsprinzip, indem zunächst eigene Mittel verwendet werden müssen. Gleichwohl verringert die Regelung den Anreiz zu einer umfassenden Eigenvorsorge.
Auch im Hinblick auf den Eigenanteil in der Pflege bietet das Versicherungsprinzip indes erhebliche Vorteile. Der Abschluss einer Zusatzversicherung zur Deckung des Eigenanteils ist vor allem für jüngere Versicherte attraktiv, schon weil bei einer langen Ansparphase ein günstigeres Prämienniveau besteht. Wie in Abschnitt 2.2.4 “Personen mit bestehenden Pflegezusatzversicherungsverträgen” beschrieben, ist allerdings der Abschluss einer solchen Zusatzversicherung bislang wenig populär.
Da sich der Umfang der erforderlichen Vorsorge individuell in Abhängigkeit etwa des Familienstands, der Gesundheit und der Einkommenssituation unterscheidet, ist es nachvollziehbar, dass der Versichertenanteil unter 100 % liegt. Auch die individuelle Vermögenssituation kann eine geringe Nachfrage nach Versicherungsleistungen erklären. Bei ausreichenden finanziellen Mitteln zur Deckung des Eigenanteils sichert die Zusatzversicherung zwar die finanziellen Mittel im Versicherungsfall ab, es mag aber sein, dass diese Mittel aufgrund der erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen Pflegebedürftiger ohnehin nur einen geringen Nutzen stiften.32
Allerdings gibt es neben individuellen auch systematische Gründe für die mangelnde Bereitschaft, eine entsprechende private Zusatzversicherung freiwillig abzuschließen.
Unterschätzung des Vorsorgeerfordernisses:
Wegen der anhaltenden öffentlichen Diskussion um die Pflege könnte man erwarten, dass die systematische Unterschätzung des Risikos, ein Pflegefall zu werden, heute weniger von Bedeutung ist als noch Anfang der 1990er Jahre. Allerdings wird das Pflegerisiko nach wie vor unterschätzt.33 So ist vielen Menschen nicht klar, dass die Gesetzliche Pflegeversicherung anders als etwa die Gesetzliche Krankenversicherung nur einen Teil der Kosten abdeckt. Zudem kann auch die Intransparenz über die zukünftig von der bestehenden Pflegeversicherung gewährten Leistungen zu einer Unterschätzung des Bedarfs an eigener Vorsorge beitragen.34
Marktunvollkommenheiten:
Aufgrund von Informationsasymmetrien können systematische Marktverzerrungen vorliegen. Kann das individuelle Risiko nicht adäquat in der Prämie abgebildet werden, wird die Zusatzversicherung vor allem für Menschen attraktiv, die vergleichsweise hohe Risiken aufweisen.35 Aufgrund der adversen Selektion steigt die Prämie und die Versicherung kann für größere Bevölkerungsgruppen unattraktiv werden.36
Trittbrettfahrerverhalten:
Auch für die Zusatzversicherung gilt, dass die Menschen versucht sein könnten, sich anstelle der Eigenvorsorge auf andere zu verlassen, sei es im Familienkontext oder im Hinblick auf die Sozialhilfe. So sind insbesondere die finanziellen Risiken in Verbindung mit dem Eigenanteil an den Pflegekosten wegen der “Hilfe zur Pflege” begrenzt.
Während einer Unterschätzung der Risiken möglicherweise durch Transparenz und Aufklärung begegnet werden könnte, legen die anderen Aspekte Zweifel an einer rein freiwilligen Eigenvorsorge nahe. Im politischen Raum wird mitunter diskutiert, eine freiwillige Zusatzversicherung im Rahmen eines Umlageverfahrens einzurichten: Im Vergleich zu bestehenden Pflegezusatzversicherungsprodukten auf dem freien Markt wären die Versicherungsbeiträge für Ältere in einer umlagefinanzierten Zusatzversicherung günstiger, für jüngere Versicherte jedoch teurer. Erstere würden sich unter ansonsten gleichen Bedingungen also für die Umlagevariante entscheiden, während die Jüngeren kapitalgedeckte Produkte bevorzugen würden. Dieser Selektionsprozess hätte zur Folge, dass die Beiträge in der Umlagevariante aufgrund der ungünstigen Risikostruktur hoch ausfallen müssten, was wiederum die Versicherung für Junge vollends unattraktiv macht. Entsprechend wäre davon auszugehen, dass eine freiwillige, umlagefinanzierte Pflegezusatzversicherung nach wenigen Jahren ähnlich hohe Beiträge aufweisen würde wie eine Versicherung mit risikoadjustierten Prämien für ältere Kohorten. Eine solche freiwillige Versicherung wird keine höhere Marktdurchdringung aufweisen als bereits existierende Versicherungsprodukte.
Adverse Selektion kann durch die Einführung einer Pflicht zum Abschluss einer Zusatzversicherung für die ungedeckten Pflegekosten adressiert werden. Sind alle Menschen verpflichtet, eine Zusatzversicherung abzuschließen, kann die Selektion schlechter Risiken verhindert werden, auch ohne dass die Prämien die individuellen Risiken abbilden. Die Versicherungspflicht verhindert auch das Trittbrettfahrerverhalten.
Die im Prüfauftrag des Koalitionsvertrags angedachte Freiwilligkeit einer ergänzenden Begrenzung der Eigenanteile erweist sich vor diesem Hintergrund als letztlich nicht geeignet, das angestrebte Ziel zu erreichen: Die Versicherung weiter Teile der Bevölkerung, die Vermeidung von adverser Selektion und einer Prämiendifferenzierung nach dem individuellen Gesundheitszustand sowie der Ausschluss von Trittbrettfahrerverhalten kann nur mit einer Pflicht zur Versicherung erreicht werden.37
In der politischen Abwägung über die Einführung einer Versicherungspflicht ist auch zu berücksichtigen, dass Umverteilungseffekte ausgelöst werden. Insbesondere führt eine nur begrenzt ausdifferenzierte Versicherungsprämie zu systematischen Umverteilungseffekten: Versicherungsnehmer mit hohen Risiken profitieren stärker als Versicherungsnehmer mit geringen Risiken. Um eine intergenerative Umverteilung auszuschließen, ist eine Differenzierung nach dem Geburtsjahrgang erforderlich. Im Hinblick auf die familiäre Betreuung kann zudem eine Verdrängung der Eigenvorsorge resultieren.38