Experten-Rat "Pflegefinanzen" stellt Konzept für eine generationengerechte und paritätische Pflegekostenversicherung vor
SchließenExperten-Rat "Pflegefinanzen" stellt Konzept für eine generationengerechte und paritätische Pflegekostenversicherung vor
SchließenDas Bestreben der Regierungskoalition, die bestehenden Regelungen zur Gesetzlichen Pflegeversicherung zu ergänzen, um die finanzielle Belastung durch den Eigenanteil zu reduzieren, erfolgt vor dem Hintergrund einer zunehmend angespannten Lage bei den Sozialversicherungen. Bereits im Jahr 2022 belief sich die Summe der Beitragssätze zu den Sozialversicherungen auf 40,05 %. Dies beinhaltet einen Beitragssatz zur Gesetzlichen Rentenversicherung von 18,6 % und zur Gesetzlichen Krankenversicherung einschließlich Zusatzbeitrag von 16 %. Auf die Soziale Pflegeversicherung entfielen 3,05 %. Der Beitragssatz der Arbeitslosenversicherung lag bei 2,4 %. Eine Gesamtbelastung durch Sozialversicherungsbeiträge von 40 % galt in der politischen Diskussion noch im Jahr 2020 als ein Höchstwert, der nicht überschritten werden sollte.39 Tatsächlich nimmt Deutschland bei der Abgabenbelastung auf Arbeit im internationalen Vergleich einen Spitzenwert ein. Für einen Alleinstehenden ohne Kinder mit Durchschnittseinkommen errechnet die OECD für Deutschland unter Berücksichtigung der Einkommensteuer (Lohnsteuer) eine Gesamtbelastung von 48 %, ein Wert, der unter den 38 OECD-Staaten nur noch von Belgien übertroffen wird.40
Für die kommenden Jahre wird mit deutlichen Steigerungen bei den Beitragssätzen gerechnet. Büttner und Werding41 prognostizieren einen Anstieg der Summe der Beitragssätze bis zum Jahr 2030 auf einen Wert von über 45 %. Dabei erwarten sie Steigerungen bei den Beitragssätzen in allen Zweigen der Sozialversicherung.42 Auch für die folgenden Jahre sind deutlich weiter steigende Beitragssätze zu erwarten.43
Auch der Bundeshaushalt ist von der Dynamik bei den Sozialversicherungen betroffen. Selbst wenn der Gesetzgeber keine zusätzlichen Programme zur Begrenzung der Beitragssatzsteigerungen beschließt, ist mit einem deutlichen Anstieg der Bundeszuschüsse an die Sozialversicherungen zu rechnen. Büttner und Werding prognostizieren, dass die Bundeszuschüsse in den kommenden Jahren überproportional zur Wirtschaftsentwicklung steigen werden.44 Zugleich ist der Bundeshaushalt aktuell angespannt. Im Jahr 2023 verzeichnet der Bundeshaushalt nun schon im vierten Jahr außergewöhnlich hohe Defizite und in der Finanzplanung ist nur ein langsamer Rückgang dieser Defizite angelegt. Während die anderen Ebenen schon seit dem Jahr 2021 wieder Überschüsse verzeichnen, sind die Defizite des Bundes so hoch, dass die europäischen Vorgaben zum ersten Mal seit dem Jahr 2005 nicht mehr eingehalten werden. Das mittelfristige Haushaltsziel im europäischen Regelwerk ist ein gesamtstaatliches Defizit von höchstens 0,5 % der Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt). Nach der Finanzplanung stabilisiert sich das gesamtstaatliche Defizit in den kommenden Jahren aber auf ein deutlich höheres Niveau von 1,5 %, was vor allem durch Defizite auf der Bundesebene getrieben ist. Insofern besteht ein erhebliches Konsolidierungserfordernis. Hinzu kommt, dass die Regelungen zur Schuldenbremse ab dem laufenden Jahr wieder eingehalten werden sollen und dass die in den letzten Jahren aufgrund einer Notlage getätigte Neuverschuldung in der mittleren bis langen Frist getilgt werden muss, was die Spielräume weiter verengt. Insofern ist eine Dämpfung der Entwicklung der Beitragssätze durch zusätzliche Bundeszuschüsse im Bundeshaushalt schwer darstellbar.45
Der für die Sozialversicherungen prognostizierte Finanzdruck hat verschiedene Ursachen. Aktuell sind der außergewöhnliche wirtschaftliche Einbruch im Zusammenhang mit der Covid19-Pandemie und eine im Zuge der Energiekrise weitgehend abgeschwächte wirtschaftliche Erholung zu nennen. Beides schlägt sich auch in einem Abbau der Rücklagen nieder. Trendmäßig ist vor allem die demografische Entwicklung von Bedeutung. Da geburtenstarke Jahrgänge in den Ruhestand gehen, resultiert eine wachsende Zahl von Leistungsempfängern. Aufgrund der besonderen Finanzierung der Sozialversicherungen sind diese Leistungen allerdings nicht durch die von den jeweiligen Versicherten im Vorfeld gezahlten Beiträge gedeckt.
Individuelle Versicherungen von Altersrisiken basieren auf einem Ansparen der zur Deckung von Leistungen erforderlichen Mittel. Im Versicherungsfall kann auf das gebildete Vermögen zurückgegriffen werden. Bei den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung kommt dieses Prinzip der Kapitaldeckung indes nicht zur Anwendung. Vielmehr werden die geleisteten Beiträge unmittelbar dazu genutzt, die aktuellen Ansprüche an die Versicherungen zu finanzieren. Diese als Umlagefinanzierung bezeichnete Finanzierungsform basiert auf einem ungedeckten Leistungsversprechen an die Beitragszahler: Es wird in Aussicht gestellt, dass sie im Versicherungsfall Leistungen erhalten, die dann von den anderen Beitragszahlern finanziert werden. Da diese Leistungsversprechen an die Beitragszahler nicht bilanziert werden und nicht verbrieft sind, wird auch von einer impliziten Verschuldung gesprochen.
Die Umlagefinanzierung hat aus politischer Sicht den großen Vorteil, dass Leistungen direkt ab Einführung einer Sozialversicherung oder bei Ausweitung der Leistungen gewährt werden können, ohne dass separat über eine Finanzierung entschieden werden muss und etwa Steuern erhöht oder Schulden aufgenommen werden müssen. Allerdings ist die Umlagefinanzierung im Kontext des demografischen Wandels nicht generationengerecht. Ohne Anpassung von Beitragssätzen entstünde ein trendmäßig wachsendes Finanzierungsdefizit. Wenn die Beitragssätze aber erhöht werden, um das Defizit auszugleichen, kommt es zu einer intergenerativen Lastenverschiebung von den älteren zu den jüngeren Geburtsjahrgängen: Während die älteren Geburtsjahrgänge vergleichsweise geringere Beiträge zur Finanzierung des Systems leisten mussten, erhalten die jüngeren Geburtsjahrgänge vergleichbare Leistungen nur mit höheren Beiträgen.
Die demografisch bedingte Dynamik bei den Sozialversicherungen ist zwar lange vorhergesagt und erwartet worden,46 und es sind in der Vergangenheit durchaus in den verschiedenen Zweigen Reformen auf den Weg gebracht worden, die auf eine Stabilisierung der Beitragssätze hinwirken. So wurde in der Rentenversicherung versucht, der zu erwartenden Entwicklung etwa durch einen Anstieg der Lebensarbeitszeit zu begegnen. Allerdings hat die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt eine vorübergehende Entlastung gebracht. Vor diesem Hintergrund ist der Reformkurs zwischenzeitlich wieder aufgegeben worden, beispielsweise durch die Möglichkeit zur abschlagsfreien vorgezogenen Verrentung von besonders langjährig Versicherten. Derzeit gehen alle Prognosen nun von einem deutlichen Rückgang der Erwerbspersonen aus. Dementsprechend wird ein geringeres Wirtschaftswachstum prognostiziert und in Bezug auf die Rentenversicherung werden zur Aufrechterhaltung der Leistungsstandards wachsende Beitragssätze projiziert.47
Die demografische Entwicklung ist auch für die Entwicklung in der Pflege von großer Bedeutung. Das individuelle Pflegerisiko steigt mit dem Alter deutlich an, so dass sich die hohe Zahl der älteren Menschen und die steigende Lebenserwartung in einem wachsenden Pflegebedarf niederschlagen. Da auch bei der Sozialen Pflegeversicherung die Finanzierung durch Umlage auf die Beschäftigten erfolgt, ergibt sich hier ebenfalls ein doppelter Finanzdruck wie bei der Rentenversicherung. Um den weiter steigenden Finanzierungsdruck ab dem Jahr 2034 zu reduzieren, wenn der erste der geburtenstarken Jahrgänge das 75. Lebensjahr erreicht,48 hat der Gesetzgeber im Jahr 2014 den Pflegevorsorgefonds eingeführt. Von 2015 bis Ende 2033 fließen demnach jährlich 0,1 Prozentpunkte des Beitragssatzes in den Fonds. Allerdings zeigen Projektionen, dass nur eine geringfügige Senkung des Beitragssatzes zu erwarten ist.49 Zudem ist die Bindungswirkung des Vorsorgefonds schwach (siehe Abschnitt 4.1.2 “Insbesondere: der Pflegevorsorgefonds”).50
Im Jahre 2019 wurde der Beitragssatz der Sozialen Pflegeversicherung vor dem Hintergrund von Leistungsausweitungen und der Dynamik bei den Leistungsausgaben um einen halben Prozentpunkt erhöht. Seit 2022 wird nun ein regelmäßiger Bundeszuschuss geleistet und es wurde der Beitragssatz für Kinderlose erhöht. Gleichwohl verzeichnet die Soziale Pflegeversicherung derzeit steigende Defizite und einen Abbau der Rücklage, so dass weitere Steigerungen des Beitragssatzes zu erwarten sind. Ein erster Anstieg ist derzeit bereits in der Planung.51 So projizieren Büttner und Werding52 einen weiteren Anstieg des Beitragssatzes bis zum Jahr 2030 auf Basis einer Fortschreibung. Unter Berücksichtigung von Altersstruktureffekten prognostizieren Breyer und Lorenz53 für diesen Zeitraum einen erheblich stärkeren Anstieg um bis zu einen ganzen Prozentpunkt, der dann ab dem Jahr 2030 im weiteren Verlauf noch deutlich an Dynamik zulegt.54 Bei der Bewertung der Projektionen ist indes zu berücksichtigen, dass die beitragssatzerhöhende Wirkung der am aktuellen Rand beschlossenen Leistungsausweitungen, wie etwa die teilweise Übernahme der Eigenanteile durch die Gesetzliche Pflegeversicherung (§ 43c SGB XI) im Rahmen der Pflegereform 2021/2022, nicht oder nur eingeschränkt abgebildet wird und damit die Dynamik noch unterschätzt wird.55
Vor dem Hintergrund des Finanzierungsdrucks in der Sozialversicherung und der Haushaltslage des Bundes steht das Vorhaben einer Ergänzung der Pflegeversicherung entsprechend des Prüfauftrags im Koalitionsvertrag vor einem Dilemma. Die Politik möchte in einer Zeit angespannter öffentlicher Finanzen den Eigenanteil an den Kosten der Pflege reduzieren. Eine substanzielle Bezuschussung aus dem Bundeshaushalt ist aber nicht nur nicht nachhaltig, sondern in der gegebenen Situation kaum darstellbar. Zugleich erscheint eine Finanzierung durch höhere Beitragssätze wegen der ohnehin anstehenden Beitragssatzerhöhungen in den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung politisch kaum möglich und würde eine Umverteilung zulasten der ohnehin benachteiligten jüngeren Geburtsjahrgänge darstellen.