Deutsche Medizintechnikindustrie: Wachstum mit Schattenseiten
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Sehr geehrte Damen und Herren,
Zahlen belegen es eindrucksvoll: Gesundheit, Pflege und Prävention sind ein herausragender Beschäftigungs- und Wirtschaftsfaktor geworden.
Wir in Bayern wissen das längst: Ministerpräsident Dr. Markus Söder hatte als damaliger Gesundheitsminister bereits 2009 beim Wirtschaftsforschungsinstitut WifOR die Erste Bayern-Studie “Wachstums- und Beschäftigungspotentiale in der Gesundheitswirtschaft in Bayern und ausgewählten Gesundheitsregionen des Landes” in Auftrag gegeben. Und es ist kein Wunder, dass wir die Branche auch heute noch über die Maßen schätzen:
Die Gesundheits- und Pflegewirtschaft (GPflWi) ist Wachstums- und Beschäftigungstreiber für Bayern. Rund jeder zehnte Euro der bayerischen Wirtschaftskraft entsteht in dieser Branche. Gleichzeitig sichert sie rund jeden sechsten Arbeitsplatz im Freistaat. 2019 generierte die bayerische GPflWi schon rund 60 Milliarden Euro Bruttowertschöpfung (BWS) und beschäftigte rund 1,2 Millionen Menschen.
Bis 2022 stieg die BWS in Bayern auf jetzt 65,5 Milliarden Euro, die Zahl der Erwerbstätigen stabilisierte sich in 2022 bei 1,3 Millionen. Die GPflWi ist damit eine der stärksten und zukunftsträchtigsten Branchen im Freistaat. Sie hat sich in den letzten zehn Jahren zum krisenresistenten Wachstumsmotor für den Wirtschaftsstandort Bayern entwickelt. Es ist davon auszugehen, dass ihre Bedeutung aufgrund der demografischen Entwicklung und einem weiterhin zunehmenden Gesundheitsbewusstsein in der Zukunft noch weiter steigen wird. Ich bin mir sicher: Das gilt weit über die Grenzen Bayerns hinaus!
Gesundheits-, Pflege- und Präventionspolitik sind auch Standortpolitik. Denn Bayern ist nicht nur Hightech-Land, der Freistaat ist auch Top-Biomed-, Pharma- und Medizintechnik- Standort. Die beiden bundesweiten Spitzencluster BioM (für die biomedizinische Grundlagenforschung in München- Martinsried) sowie Medical Valley (für Pharma und MedTech in Nürnberg-Erlangen) mit Sitz in Bayern belegen das.
Klar ist: Wir müssen die überragende Bedeutung der Medizintechnik als forschungsstarke und unverzichtbare Branche für die Versorgungssicherheit mit teils lebenswichtigen Medizinprodukten weiter sicherstellen. Die Hersteller von Medizinprodukten in Deutschland stehen vor großen Herausforderungen, da die Vorgaben der Europäischen Medizinprodukteverordnung (MDR) vor allem bei der Zertifizierung von Medizinprodukten zu massiven Belastungen führen. Erkennbar sind bereits jetzt negative Auswirkungen auf die Innovationskraft der Branche und damit auch auf die Verfügbarkeit von innovativen Medizinprodukten in der EU. Es zeichnet sich ab, dass immer mehr Unternehmen andere Märkte für das erste Inverkehrbringen ihrer Medizinprodukte bevorzugen und Forschung und Entwicklung zunehmend in außereuropäische Standorte verlagert werden. Das bedeutet: Innovationen kommen in der EU erst deutlich später an, zum Nachteil der betroffenen Patientinnen und Patienten. Und die Standorte Deutschland und Europa verlieren an Attraktivität.
Dabei unterstützen wir ausdrücklich das Ziel der MDR, einen hohen Standard an Patientensicherheit in Europa zu gewährleisten. Dieses Ziel wird jedoch untergraben, wenn die Versorgungssicherheit mit lebenswichtigen Medizinprodukten nicht mehr gewährleistet ist. Dies betrifft allem voran die sogenannten Orphan Devices, die einen kleinen Markt bedienen und deren Entwicklung, Herstellung und Vermarktung derzeit nicht mehr wirtschaftlich ist. Hier braucht es schnell Regelungen für Nischenprodukte, um so die rechtlichen Anforderungen und die notwendigen Kosten- und Personalressourcen für die Unternehmen und Benannten Stellen zu realisieren.
Die nach wie vor bestehende Pflicht zur kompletten Rezertifizierung von Medizinprodukten nach spätestens fünf Jahren – unabhängig davon, ob irgendwelche Änderungen am Produkt vorgenommen wurden oder nicht – sollte abgeschafft werden. Denn mit der MDR wurden umfangreiche neue Vorschriften für eine kontinuierliche Marktnachbeobachtung eingeführt und diejenigen zur Marktüberwachung nochmals verschärft. Zusätzlich muss jede Änderung am Produkt angezeigt und jeweils neu bewertet werden. Sowohl die Bundesregierung als auch die EU-Kommission haben jeweils eine Lösung zu mehr Bürokratieabbau ausgegeben. Die neue Änderungsverordnung zur MDR und IVDR mit der Einführung einer neuen Berichtspflicht, deren Umsetzung den Unternehmen und Behörden viele neue Implementierungsschwierigkeiten beschert, widerspricht diesem Aufruf jedoch eklatant.
Wir begrüßen ausdrücklich, dass die EU-Kommission unserer Forderung nach einer vorgezogenen Evaluierung der MDR nachkommt. Dennoch werden wir gegenüber der EU-Kommission weiter darauf dringen, die nach Art. 121 MDR bis spätestens 27. Mai 2027 vorgesehene Bewertung der MDR bis Ende 2024 abzuschließen und 2025 einen Gesetzesvorschlag zur Änderung vorzulegen.
Und wir begrüßen die im aktuellen Vorschlag der EU-Kommission enthaltene Überarbeitung und Verlängerung der IVDR-Übergangsvorschriften. Dies gibt Herstellern und Benannten Stellen mehr Zeit für den Abschluss der erforderlichen Konformitätsbewertungsverfahren, sodass die Verfügbarkeit von Produkten und damit die Patientenversorgung zunächst gesichert sein sollte. Allerdings müssen wir darauf drängen, die Entwicklungen bezüglich der IVDR weiterhin genau zu beobachten und deren Evaluierung gemäß Art. 111 IVDR ebenfalls noch heuer durchzuführen und möglichst abzuschließen.
Die Fortsetzung konstruktiver Formate wie etwa unsere “Südschiene” mit den Gesundheits- und Wirtschaftsministerien aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Hessen und Bayern bleiben deshalb im Interesse der Patienten- und der Versorgungssicherheit auf unserer Tagesordnung. Denn eines ist klar: Der gegenseitige Austausch über Ländergrenzen und Ressorts hinweg bleibt auch in Zukunft von herausragender Bedeutung!
Ihre
Judith Gerlach, MdL
Bayerische Staatsministerin für
Gesundheit, Pflege und Prävention