Was plant die Ampel-Koalition fürs Gesundheitswesen? Teil 1

Was plant die Ampel-Koalition fürs Gesundheitswesen? Teil 1

Unter dem Titel „Mehr Fortschritt wagen, Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ haben die künftigen Ampel-Koalitionäre am 24. November ihren Koalitionsvertrag vorgelegt. Von den insgesamt 177 Seiten widmen sich rund 8 dem Thema Gesundheit und Pflege. REBMANN RESEARCH hat die Inhalte unter die Lupe genommen und die wichtigsten Punkte kompakt zusammengefasst. Nicht wenige der Vorhaben verstehen sich auch als Konsequenz aus der aktuellen Pandemiesituation. Die News widmen sich heute in einem ersten Teil dem Gesundheitsbereich, während die Teil 2 und 3 die geplanten Maßnahmen für die Pflege und die Apotheken untersucht.

Verbesserung der ambulanten und stationären Gesundheitsversorgung

  • Förderung der Ambulantisierung durch die Definition von Leistungen, für die künftig eine sektorengleiche Vergütung in Form sogenannter Hybrid-DRG eingeführt wird
  • Ausbau multiprofessioneller, integrierter Gesundheits- und Notfallzentren zur Sicherstellung der wohnortnahen ambulanten und kurzstationären Versorgung, Finanzierung durch neue spezifische Vergütungsstrukturen
  • Stärkung innovativer Versorgungsformen durch Förderung bevölkerungsbezogener Versorgungsverträge (Gesundheitsregionen) und Erweiterung des gesetzlichen Spielraums für Verträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern
  • Einführung niedrigschwelliger Beratungsangebote für Behandlung und Prävention in besonders benachteiligten Kommunen und Stadtteilen z.B. in Form von Gesundheitskiosken
  • Ausbau der Angebote im Bereich Gemeindeschwestern und Gesundheitslotsen im ländlichen Raum
  • Ausbau einer sektorenübergreifenden Versorgungsplanung unter Einbeziehung der Länder
  • Sicherstellung der Versorgung in unterversorgten Regionen Zusammenarbeit mit den KVen
  • Stärkung der hausärztlichen Versorgung durch Aufhebung der Budgetierung der ärztlichen Honorare für Hausärzte
  • Erleichterungen und Abbau bürokratischer Hürden bei der Gründung kommunaler Medizinischer Versorgungszentren und deren Zweigpraxen (die zuständige Landesbehörde muss künftig die Entscheidungen des Zulassungsausschusses bestätigen)

Verbesserungen der Geburtshilfe

  • Aufstellung eines Aktionsplans zur Umsetzung des nationalen Gesundheitsziels „Gesundheit rund um die Geburt“
  • Abbau möglicher Fehlanreize rund um Spontangeburten und Kaiserschnitte
  • Einführung einer 1:1-Hebammenbetreuung während wesentlicher Phasen der Geburt
  • Förderung des Ausbaus hebammengeleiteter Kreißsäle und Einführung einer Vergütung für die ambulante, aufsuchende Geburtsvor- und -nachsorge für angestellte Hebammen an Kliniken

Sicherstellung der Notfallversorgung über INZ

  • Aufbau integrierter Notfallzentren (INZ) in enger Zusammenarbeit zwischen den kassenärztlichen Vereinigungen und den Krankenhäusern; Kven haben die Option, die ambulante Notfallversorgung dort selbst sicherzustellen oder dieser nach Absprache mit dem Land ganz oder teilweise auf die Betreiber zu übertragen
  • Steuerung der Notfälle durch eine Verknüpfung der Rettungsleitstellen mit den KV-Leitstellen und standardisierten Einschätzungssystemen (telefonisch, telemedizinisch oder vor Ort)
  • Aufnahme des Rettungswesens als integrierten Leistungsbereich in das SGB V, Regelung des Leistungsumfangs der Bergrettung sowie der Verantwortung für die Wasserrettung jenseits der Küstengewässer

Förderung der Digitalisierung im Gesundheitswesen

  • Aufstellung und Fortschreibung einer Digitalisierungsstrategie mit besonderem Fokus auf die Lösung von Versorgungsproblemen und die Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer
  • Einführung telemedizinischer Regelversorungsleistungen wie Videosprechstunden, Telekonsile, Telemonitoring, telenotärztliche Versorgung einschließlich Arznei-, Heil- und Hilfsmittelverordnungen
  • Beschleunigung der Einführung des eRezeptes und der elektronischen Patientenakte (ePA); Umstellung bei der freiwilligen Nutzung der ePA vom opt-in- in ein opt-out-Modell
  • Beschleunigung der Einbindung aller Akteure an die Telematikinfrastruktur
  • Ausbau der gematik zu einer digitalen Gesundheitsagentur
  • Aufbau einer dezentralen Forschungsdateninfrastruktur und Erleichterung der wissenschaftlichen Nutzung von Gesundheitsdaten auf Basis eines Registergesetzes und eines Gesundheitsdatennutzungsgesetzes

Verbesserung der Vorsorge und Prävention

  • Stärkung der Primär- und Sekundärprävention durch Weiterentwicklung des Präventionsgesetzes
  • Unterstützung der Krankenkassen und anderer Akteure bei der Umsetzung von Vorsorge und Prävention; im Gegenzug Einschränkung der Möglichkeiten der Krankenkassen, Beitragsmittel für Werbemaßnahmen und Werbegeschenke zu verwenden
  • Verbesserung der Möglichkeit für die Kassen, ihren Versicherten auch monetäre Boni für die Teilnahme an Präventionsprogrammen zu gewähren
  • Erstellung eines nationalen Präventionsplans sowie konkrete Maßnahmenpakete (z.B. zur Alterszahngesundheit, Diabetes, Einsamkeit, Suizid, Wiederbelebung und Vorbeugung von klima- und umweltbedingten Gesundheitsschäden)
  • Verbesserte Alkohol- und Nikotinprävention insbesondere durch verstärkte Aufklärung von Kindern, Jugendlichen und schwangere Frauen. Verschärfung der Regelungen für Marketing und Sponsoring bei Alkohol, Nikotin und Cannabis
  • Legalisierung der Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften mit dem Ziel der Qualitätskontrolle und Reduzierung der Weitergabe verunreinigter Substanzen bei verpflichtender Evaluation des Modells nach 4 Jahren

Verbesserungen bei der Versorgung psychisch Kranker

  • Reform der psychotherapeutischen Bedarfsplanung zur Verringerung der Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz (insbesondere für Kinder/Jugendliche und in ländlichen/strukturschwachen Gegenden
  • Bedarfsgerechter und koordinierte Ausbau der Kapazitäten zur Verbesserung der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung insbesondere für Patienten mit schweren und komplexen Erkrankungen und Sicherstellung des Zugangs zu ambulanten Komplexleistungen
  • Aufklärungskampagne zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen
  • Sicherstellung einer leitliniengerechten psychotherapeutischen Versorgung im stationären Bereich bei Einführung einer bedarfsgerechten Personalausstattung
  • Flächendeckender Ausbau der psychiatrischen Notfall- und Krisenversorgung

Reformierung der Krankenhausplanung und -finanzierung

  • Aufstellen eines Bund-Länder-Pakts für eine Reformierung des Krankenhausbereichs (insbesondere Planung und Finanzierung) unter Berücksichtigung der Empfehlungen einer kurzfristig einzusetzenden Regierungskommission
  • Weiterentwicklung der Krankenhausfinanzierung, die das bisherige System um erlösunabhängige Vorhaltepauschalen ergänzt, die nach Versorgungsstufen differenzieren (Primär-, Grund-, Regel-, Maximalversorgung, Uniklinika)
  • Kurzfristige Sicherstellung der Finanzierung für die Pädiatrie, Notfallversorgung und Geburtshilfe

Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD):

  • Verlängerung der Einstellungsfristen des Pakts für den ÖGD, Appell an die Sozialpartner, einen eigenständigen Tarifvertrag aufzustellen
  • Bereitstellung der finanziellen Mittel zur dauerhaften Sicherung des ÖGD auf Grundlage der Ergebnisse des Zwischenberichts
  • Aufbau eines Bundesinstituts für öffentliche Gesundheit am Bundesministerium für Gesundheit, das die bisherige Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ersetzt und die Aktivitäten im Public-Health-Bereich unter Vernetzung des ÖGD und der Gesundheitskommunikation bündelt
  • Künftige Weisungsgebundenheit des Robert Koch-Instituts (RKI) bei der wissenschaftlichen Arbeit

Maßnahmen zum Bürokratieabbau

  • Entfernung überholter Dokumentationspflichten aus dem SGB V und aus weiteren Normen
  • Identifikation der Belastungen durch Bürokratie und Berichtspflichten außerhalb gesetzlicher Regelungen
  • Übernahme der Verfahrenserleichterungen, die sich in der Pandemie bewährt haben
  • (Digitale) Sprachmittlung bei der notwendigen medizinischen Behandlung wird Bestandteil des SGB V

Maßnahmen zur Versorgung von COVID-19-Langzeitfolgen

  • Erforschung und Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung bei COVID-19-Langzeitfolgen sowie beim chronischen Fatigue-Syndrom (ME/CFS) mithilfe eines deutschlandweiten Netzwerks von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen

Ausbau der Inklusion und Barrierefreiheit

  • Ausarbeitung eines Aktionsplans für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen bis Ende 2022
  • Verbesserung der Versorgung schwerstbehinderter Kinder und bürokratischen Entlastung der betroffenen Familien
  • Ausbau der Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung/ schweren Mehrfachbehinderungen und der Sozialpädiatrischen Zentren in allen Bundesländern

Förderung von Gendermedizin und Gleichberechtigung

  • Stärkere Berücksichtigung geschlechtsbezogener Unterschiede in der Versorgung, bei der Gesundheitsförderung, Prävention und in der Forschung
  • Integration der Gendermedizin in das Medizinstudium sowie in Aus-, Fort- und Weiterbildungen der Gesundheitsberufe
  • Abbau genderbezogener Diskriminierungen und Zugangsbarrieren sowie Stärkung der paritätischen Beteiligung von Frauen in den Führungsgremien der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen, ihrer Spitzenverbände auf Bundesebene sowie in jenen der gesetzlichen Krankenkassen

Stärkung der Patientenrechte

  • Überführung der Unabhängigen Patientenberatung (UPD) in eine dauerhafte, staatsferne und unabhängige Struktur unter Beteiligung der maßgeblichen Patientenorganisationen
  • Stärkung der Stellung der Patienten im bestehenden Haftungssystem bei Behandlungsfehlern, Einführung eines Härtefallfonds mit gedeckelten Ansprüchen

Reform des G-BA

  • Beschleunigung der Entscheidungen der Selbstverwaltung, Erweiterung der Mitspracherechte der Pflege und anderer Gesundheitsberufe durch eine Reform des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA)

Fortführung des Innovationsfonds

  • Dauerhafte Einrichtung des Innovationsfonds
  • Vorgabe der Schritte bei der Überführung erfolgreicher Projekte in die Regelversorgung

Anpassung der Finanzierung

  • Künftige verbindliche Dynamisierung des Bundeszuschusses an den Gesundheitsfonds
  • Steuerfinanzierung höherer Beiträge für die Bezieher Arbeitslosengeld II

Sonstige Maßnahmen

  • Einführung einer Offenlegungspflicht der Service- und Versorgungsqualität der Kassen nach einheitlichen Mindestkriterien
  • Verbindliche Einführung der Direktabrechnung für Kinder und Jugendliche in der PKV
  • Prüfung des Zugangs zur Krankenversicherung und -versorgung für Menschen mit ungeklärtem Versicherungsstatus (insbesondere Wohnungslose)

 

Kommentar:

Der Koalitionsvertrag legt die wichtigsten Vorhaben der Ampel-Koalition für die neue Legislaturperiode fest – hat dabei jedoch keine rechtsverbindliche Wirkung. Sollte es tatsächlich zur Umsetzung der genannten Vorhaben kommen, liegt viel Arbeit vor dem noch nicht benannten neuen Gesundheitsminister. Durch die Entbudgetierung der Hausarzthonorare, die Förderung der Gemeindeschwestern und den Aufbau der multiprofessionellen integrierten Gesundheitszentren ist eine Stärkung der wohnortnahen Grundversorgung zu erwarten. Hier liegt mit dem von der Robert Bosch Stiftung ausgearbeiteten Konzept der Patientenorientierten Zentren zur Primär- und Langzeitversorgung (PORT) bereits eine Blaupause vor. Das Thema der Einführung einer Bürgersicherung haben die Koalitionäre nicht aufgegriffen. Indessen stehen einige andere brisante Themen im Vertrag, die großes Konfliktpotenzial bergen. Diese betreffen u.a. die sektorenübergreifende Bedarfsplanung, die Integrierten Notfallzentren oder den vorgesehenen aktiven Part des Bundes bei der Sicherstellung der ambulanten Versorgung.

Quelle: MEHR FORTSCHRITT WAGEN, KOALITIONSVERTRAG ZWISCHEN SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN UND FDP, November 2021

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