Zwei Jahre nach Geltungsbeginn und ein halbes Jahr nach Inkrafttreten der neuen Übergangsbestimmungen stellt die Umsetzung und Implementierung der Medical Device Regulation (MDR) nach wie vor eine große Herausforderung für die Medizintechnikbranche dar. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK), die Medical Mountains GmbH und der Industrieverband SPECTARIS haben von Juni bis August 2023 eine bundesweite Befragung durchgeführt, um Auskünfte über das Ausmaß der Auswirkungen zu erhalten. Einige Hersteller wurden auch aus Österreich, der Schweiz, Dänemark und den Niederlanden befragt. Konkret gewinnt die Studie Erkenntnisse zu zentralen Problemfeldern, Einflüssen auf das Innovationsgeschehen und die Versorgung mit Medizinprodukten insgesamt.
Die Umfrageergebnisse stammen zum Großteil aus Deutschland, lassen aber Trends zu, die auf die gesamte Medizinprodukteindustrie anwendbar sind (die Hälfte der EU-weit erwirtschafteten Branchenumsätze entfallen auf deutsche Unternehmen). Hier sind einige der spannendsten Aussagen:
1. Die Vielfalt der Bestands- und Nischenprodukte ist rückläufig
- In 53% aller Produktsortimente gibt es eine mindestens teilweise Einstellung des Vertriebs: 34% einzelne Produkte, 13% ganze Produktlinien, 6% komplette Sortimente.
- Besonders betroffene Produktbereiche: chirurgische Instrumente wie Scheren, Nadelhalter, Pinzetten (70%), Zahnmedizin (67%), Intensivmedizin (63%), Thoraxchirurgie (60%), Traumatologie und Unfallchirurgie sowie Radiologie (je 58%).
- Verlagerung auf Märkte außerhalb der EU: Mehr als die Hälfte der Hersteller (58%) vertreiben die regional eingestellten Produkte außerhalb der EU, insbesondere in den USA (59%) weiter.
- Ein Fünftel der eingestellten Produkte verschwindet aus der Patientenversorgung mangels gleichwertiger Alternative, knapp die Hälfte (45%) sind nicht vollständig kompensierbar, vor allem im Bereich Medizinische Software und Apps (57%), Kreislaufsystem und Kardiologie (33%), Neurologie und Neurochirurgie (31%), Kinderheilkunde (29%). Nur rund ein Drittel (36%) ist anderweitig weiterhin verfügbar.
- Der Anteil nicht kompensierbarer Nischenprodukte liegt sogar bei 38%. Bekannte Beispiele sind Herzbiopsiezangen für Kinder und Babystents.
- Hauptgründe für Produkteinstellungen sind die Zertifizierungskosten (91%) und die Bürokratie (74%).
2. Die Innovationskraft in Deutschland und der EU wird geschwächt
- 77% der Unternehmen sehen ihre Innovationsaktivitäten negativ beeinflusst.
- Besonders ausgeprägt sind die Effekte in der Augenheilkunde (70%), Viszeralchirurgie sowie Geburtshilfe und Gynäkologie inklusive der Reproduktionsmedizin (je 64%). Teilweise stoppen die Hersteller Innovationsprojekte komplett oder nehmen keine Änderungen bzw. Optimierungen mehr vor.
- Erstzulassungen werden verlagert, überwiegend in die USA.
- Mehr als ein Viertel (26%), die eine Erstzulassung außerhalb der EU anstreben, planen die F&E-Aktivitäten auf mittel- bis langfristige Dauer komplett zu verlagern, auch die Durchführung klinischer Studien ist von dieser Entwicklung betroffen.
- Mit Implementierung der MDR müssen eigene Studien durchgeführt werden, es kann nicht mehr auf klinische Daten eines anderen Herstellers zurückgegriffen werden (Äquivalenzprinzip).
- Gründe für die Verlagerung klinischer Studien ins Nicht-EU-Ausland: Kosten für die Studiendurchführung (60%), Studiendauer (60%), restriktiver Datenschutz (42%).
- Bevorzugte Länder für klinische Studien: USA, Indien, sonstiges Europa.
3. Insgesamt bleibt die Umsetzung der MDR eine erhebliche Herausforderung
- Drei zentrale Problemfelder sind, die Anpassung der technischen Dokumentation (67%), die Zertifizierungskosten (59%) und die hohe Komplexität der Verordnung (58%).
- Die Dauer der Zulassungsverfahren steigt: 62% berichten von einer Verdopplung, 37% von einer Steigerung um über 200%.
- Bestehende Engpässe und inhomogene Zusammenarbeit mit benannten Stellen sind problematisch: Knapp drei Viertel der Hersteller (73%) leiden unter fehlenden Kapazitäten, fast die Hälfte (47%) hat mit einer unterschiedlichen Auslegung der MDR-Anforderungen zu kämpfen.
4. Vor allem Kleinunternehmen sind von den Auswirkungen der MDR betroffen
Mehr als zwei Drittel der Unternehmen mit weniger als 10 Mitarbeitern stellen den Vertrieb von mindestens einem Produkt in der EU ein. Damit verschwinden nicht nur viele Nischenprodukte vom EU-Markt, sondern auch diverse Kleinunternehmen selbst.
Kommentar:
Die MDR zielt im Kern darauf ab, einen soliden, transparenten und nachhaltigen Rechtsrahmen für Medizinprodukte zu schaffen, der sowohl ein hohes Sicherheits- und Gesundheitsschutzniveau gewährleistet als auch Innovationen fördert und den Binnenmarkt unterstützt, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen. Aufgrund der hohen Anforderungen und der zu verzeichnenden Auswirkungen ist jedoch weiterhin Vorsicht geboten, um nicht das Gegenteil zu bewirken: eine Verlagerung der Märkte außerhalb der EU und die Gefährdung des Fortbestehens, insbesondere für kleinere Unternehmen.
Am reibungslosesten verläuft die Anerkennung von Bestandsprodukten laut Umfrage in Kanada und Indien, wo nur 1 bzw. 7% von Problemen berichten. Teilweise weichen die Hersteller in Europa zwar auf europäische Länder außerhalb der EU aus, die Probleme sind mit einem Anteil von 43% im internationalen Vergleich dennoch am stärksten ausgeprägt.